Schmerz

Signal, Symptom, Krankheit

Wer über viele Jahre Schmerzpatienten betreut und begleitet, verändert mit der Zeit die Blickrichtung und Schwerpunkte. In Anbetracht eines geplanten Diagnose Codes ICD 11, der im Jahre 2022 auch in Österreich kommen sollte, möchte ich zu diesem Thema einige Überlegungen anstellen.

Schmerzen sind immer ein Signal dafür, dass eine Gefahr für den Körper droht, sei es z.B. durch eine heiße Herdplatte, die es zu vermeiden gilt, oder durch zu langes, unergonomisches Sitzen, das unserem Bewegungsapparat nachweislich schadet. „Schmerz“ ist auch ein Symptom, nicht nur bei Halsweh oder Magenschmerzen, sondern auch bei Bandscheibenvorfällen und Hexenschuss.

Schmerzen können lange bestehen bleiben, bis zur völligen Schmerzfreiheit und Wohlbefinden vergeht oftmals einige Zeit. Es gibt Fälle, bei denen der Körper für Schmerzen empfindlicher bleibt, wodurch längerfristige chronische Verläufe drohen. Bei Betroffenen ist der „Schmerz“ dabei nicht Tageshauptthema, allerdings können in labilen Phasen bzw. Lebenssituationen Schmerz-Rezidive ausgelöst werden, die nach einem langen Leidensweg in einer chronischen Schmerzerkrankung enden. Hier gelingt es oftmals kaum, eine völlige Schmerzfreiheit zu erreichen. Die Betroffenen benötigen eine intensive Begleitung und Betreuung, um den Leidensdruck zu verringern.

Der von der WHO angedachte ICD11 (Diagnose Code) nimmt zum ersten Mal Schmerzdiagnosen als eigenständige Kategorie auf. Dieser ICD11 ist zusätzlich mit einem ICF (Funktions Score) hinterlegt. Erstmals wird es gelingen, menschliches Dauerleid zu dokumentieren, sowie in seiner Qualität und Quantität zu analysieren! Die Effekte auf unsere Medizin wären weitreichend:

  1. Es könnte aufgezeigt werden, wie und wann aus dem „Signal“ Schmerz oder aus dem „Symptom“ Schmerz eine Vulnerabilität in der Persönlichkeit entsteht, um zuletzt in einer oftmals unheilbaren Schmerzerkrankung zu enden, in der nur mehr Begleitung und Linderung, aber keine Heilung möglich ist.
  2. Es gäbe starke Impulse in Richtung Interdisziplinarität und Multimodalität, die die Zusammenarbeit vonKrankenhäusern, Arztpraxen und Schmerzzentren stärkt.
  3. Die Aufgaben der Allgemeinmediziner würden in einem ganzheitlichen Kontext gefordert werden: Bio-Psycho-Sozial
  4. Der direkte Übergang von Diagnose – Therapie – Prävention wäre ein Auftrag. Krankheit als Defizit wird ergänzt durch Schmerzerkrankung als Chance auf Entwicklung.
  5. Je früher im Verlauf von drohenden Schmerzentgleisungen Schmerzintegration oder Schmerzinklusion möglich werden, umso weniger würden Betroffenen in ein „Schmerzchaos“ abgleiten. Das könnte langfristig die Kosten im Gesundheitswesen reduzieren helfen.

Eine zeitgerechte Konfrontation von Betroffenen, Familie und Sozialsystem mit drohenden Unwegbarkeiten wäre das Ziel! Viel persönliches Leid ließen sich dadurch verhindern, was eine großartige Gelegenheit für eine „gesunde“ Gesellschaft im 21. Jahrhundert wäre.


Dr. Martin Pinsger, MSc

Facharzt für Orthopädie
Schmerztherapie